Bücher

Diagnose Psychose

Uli Pforr hatte viel Angst. Als die Angst eines Tages überhand nahm und er nicht einmal mehr das Haus verlassen konnte, begleitete ihn ein Freund in die Psychiatrie. Was er dort über viele Wochen, auf verschiedenen Stationen und in der Tagesklinik mit Ärzten und Patienten erlebte, fasste er in einen Comic. Ein Werk, das die Weichen für sein berufliches Leben stellen sollte.
Wenn sein Leben verfilmt werden würde, dann wäre dies eine passende Schlussszene. Ein Plot wie ihn ein Drehbuchschreiber nicht besser erfinden könnte. Museum für Kunst und Gewerbe, Abschlussveranstaltung der Hamburger Technischen Kunstschule (HTK) im Jahr 2005. 150 Schüler warten auf ihr Abschlusszeugnis. Einer von ihnen ist Uli Pforr. Auch seine Eltern sind da, sie gucken von der Loge herunter. Über 100 Schüler wurden schon aufgerufen und haben ihr Zeugnis in den Händen. Die Nervosität steigt: Sollte es doch nicht gut gegangen sein? Da ertönt ein Gong. Uli Pforr wird aufgerufen – als einer der drei Besten. Für seine Abschlussarbeit als Kommunikations-Designer/Illustrator – die Buchkonzeption „Angst“ – erhält er eine „eins mit Auszeichnung“. Dem Vater steigen Tränen in die Augen. Lange hatte er um seinen Sohn gebangt. Nun hatte sich „der Horror zum Guten gewandelt“, beschreibt es Uli Pforr, heute 31. Er hat seinen Psychiatrieaufenthalt in ein Buch verwandelt – und in die Eintrittskarte zu einem Leben als Designer und freier Künstler.

Rückblick und Vorgeschichte

Uli Pforr, Sohn eines Ingenieurs und einer ebenfalls zeichnerisch begabten Sekretärin, wächst in Gottrupel auf, einem kleinen Dorf an der dänischen Grenze, bei Flensburg gelegen. Er ist ein Naturtalent, ein begeisterter Comiczeichner. Nach dem Sozialwirtschaftsgymnasium zieht es ihn nach Hamburg. Hier, an der Designfactory, beginnt er Grafikdesign zu studieren. Er ist ein fröhlicher Mensch. Aber auch schüchtern. Ein Angstkind schon in der Schule. In Hamburg verstärkt sich die Angst, vor allem wenn viele Leute um ihn herum sind. So wie in der U-Bahn. Er erleidet Panikattacken. Nach einem Umzug nach Georgswerder wird es schlimmer, in den dörflichen Strukturen fühlt er sich oft beobachtet. „Ich war ja auch Blickpunkt“, erinnert er sich. Er fehlt oft in der Factory, nach der Zwischenprüfung muss er deshalb gehen. Wandert aber noch am selben Tag mit seiner Mappe unter dem Arm im die Hamburger Technische Kunstschule (HTK), kann dort weitermachen. Doch er fehlt auch dort und das immer häufiger. Er schafft die U-Bahn nicht mehr, bald schafft er es oft nicht mal mehr, das Haus zu verlassen. Ein Freund, dem er sich anvertraut, fährt mit ihm in die Universitätspsychiatrie Eppendorf.

Auf der Psychosenstation

„Stellen Sie sich vor, Sie werden zur Untersuchung in eine Klinik eingewiesen, landen dort aber versehentlich für eine Woche in der geschlossenen Psychiatrie“, heißt es auf der HTK-Homepage in der Beschreibung des Angstbuches. Und so ähnlich war’s. An einen stationären Aufenthalt hatte er nicht gedacht, als er nach Eppendorf fuhr. Er hatte auf Medikamente gehofft, die ihm helfen könnten, besser durch den Alltag zu kommen. Doch als er der Ärztin schildert, dass er sich mitunter beobachtet und bewertet fühle, vieles auf sich beziehe, vermutet sie eine Psychose. Uli Pforr erhält erstmal keine Medikamente, dafür zieht er ins UKE-Hochhaus ein, auf die Psychosenstation. Wie im Fernsehen, schildert er im Nachhinein seine ersten Eindrücke. Was ihm vor allem auffiel: „Die meisten redeten nicht.“ Er fragt gleich und viel. Erfährt viele traurige Schicksale von „eigentlich netten Menschen“. In der so genannten Sonntagsrunde traut er sich kaum zu erzählen, dass er am Wochenende Besuch hatte: „Für die anderen war es schon ein großes Ereignis, wenn sie am Kiosk waren und Lakritz gekauft haben. Das war alles so traurig.“

Auf der Allgemeinstation

Einen Tag später erklärt ihm der Oberarzt, dass er wohl doch auf der falschen Station gelandet sei. Verlegung in die „PS 1“, eine gemischte Station. Hier treffen sich Depressive, Borderliner, Magersüchtige, Drogensüchtige, sogar eine Frau mit multiplen Persönlichkeiten ist dabei. Uli Pforr ist aufs Neue schockiert, aber auch fasziniert. Im Raucherraum trifft er auf ein Mädchen, dem das Blut die Wangen herunterläuft. Auch sie spricht er an, weil er die Stille nicht aushält. Erfährt so, was Borderline ist und Selbstverletzung bedeutet. Bald wird er alle Diagnosen kennen und viele Lebensgeschichten dazu. „Ich habe so viele Menschen und Eigenschaften kennengelernt wie noch nie. Was für Schicksale es gibt, was man sonst so schnell verurteilt.“
Mitunter erschienen ihm Ärzte „so was Psychisches an sich“ zu haben, während ihm Mitpatienten fit und normal vorkamen. Viele Überraschungen hat er erlebt. Die „gruftimäßige“, stets böse guckende Mitpatientin z. B. entpuppte sich als „Frau mit Durchblick, mit Feingefühl fürs Menschliche“, mit der er stundenlang reden konnte. Er schließt auch Freundschaften. Mit zwei ehemaligen Mitpatienten trifft er sich bis heute. Aber das Ganze wühlt den Angstpatienten auf: „Ich fühlte mich immer so, als wenn ich die unterhalten müsste.“ Er selbst hat jetzt eine neue Diagnose: Agoraphobie. Er bekommt Antidepressiva. Und abends Beruhigungsmittel. Er lernt Steinchen schleifen in der Ergotherapie, fängt wieder an „Mensch ärgere dich nicht“ zu spielen, guckt mit den anderen Videos und macht bei der Sportgruppe mit. „Da kam ich mir vor wie in der Seniorengruppe, da war einer dabei, der hatte Crack genommen, der musste sich nach zwei Schritten übergeben.“ Eins wundert ihn bis heute: Psychotherapie oder Gespräche gab es keine, sagt er. Überprüft wurde v.a. die Wirkung der Medikamente.

In der Tagesklinik

Nach sechs Wochen wechselt Uli Pforr für weitere drei Monate in die Tagesklinik. Wieder andere Patienten und Diagnosen. Und andere therapeutische Ansichten. Die Medikamente sollen „heruntergeschraubt“ werden – „dabei fingen sie gerade an zu wirken“. Man übt hier Entspannungsmethoden, und nun beginnt auch eine Psychotherapie. Zweimal in der Woche steht Verhaltenstherapie auf dem Programm. Pfleger unterrichten über Angst. Seine neueste Diagnose lautet nun Sozialphobie. Es gibt gestufte Übungen wie: Omis ansprechen und nach der Uhrzeit fragen, eine Frau nach dem Weg fragen und zu einer Studentin dazusetzen und mit ihr Kaffee trinken. Uli Pforr lernt überdies, wie es ist, wenn man in der U-Bahn alle Blicke auf sich zieht, in dem man hin- und hergeht oder mit erhobenen Händen – und den Therapeuten an der Seite – durch die Stadt läuft. In stationäre Behandlung würde er sich aus heutiger Sicht nicht nochmal begeben. Wenngleich: „Mein Zustand war schon sehr krass.“ Die Tagesklinik aber sei sinnvoll gewesen. „Da ist mir vieles klar geworden“. Auch wenn die Verhaltenstherapie langfristig gesehen nicht viel gebracht habe, wie er meint. „Wenn man es so lange hat, seit seiner Kindheit, ist es doch nicht vorstellbar, dass es durch ein paar Übungen weggeht.“ Doch als er die Tagesklinik verließ, ging es ihm gut, sagt er.

Was danach geschah

Uli Pforr hatte fast ein Semester ausgesetzt, „die Dozenten hatten mich fast abgeschrieben“. Doch in der Ergotherapie war ihm die Idee gekommen, seinen Psychiatrieaufenthalt zur Abschlussarbeit zu machen. Wieder zuhause springt „die Maschine“ an. Fieberhaft erarbeitet er Grafiken und dazugehörige Texte. Ergebnis: siehe oben.
Nach seinem Abschluss beginnt er auch auf Leinwand zu malen. Viele und viele unglaublich farbenfrohe Werke entstehen, Werke voller Einzelheiten, Momentaufnahmen von Menschen und Situationen, viele auf St. Pauli gewonnen. Ein besonderer Stil wird erkannt. Seither geht es Schritt für Schritt aufwärts. Heute verkauft Uli Pforr seine Bilder, arbeitet in einem Atelier in Wilhelmsburg, beteiligt sich an Ausstellungen, gestaltet eigene, zuletzt in der Bar von Cosma Chiva Hagen am Hamburger Fischmarkt.
Heute ist er angekommen im richtigen Künstlerleben.

— Anke Hinrichs, Originalveröffentlichung April 2010