Gesellschaft

„Inklusion muss laut sein“ - Heavy-Metal in Wacken

Heavy-Metal im schleswig-holsteinischen Wacken – das gab es auch im Corona-Sommer. Wegen der Pandemie verlegten die Veranstalter die für 29. Juli bis 1. August geplante Großveranstaltung kurzerhand ins Internet, wo die Konzerte auch weiterhin kostenlos abrufbar sind (wacken-world-wide.com, Magenta-Musik-360, MagentaTV). Damit wurde das Festival noch niedrigschwelliger und behindertenfreundlicher als es ohnehin ist, wie ein Besuch im Vorjahr zeigte.

Heavy-Metal in Wacken (2019) - Foto: Anke Hinrichs

Es ist „Krieg“ in Wacken. Auf den Zufahrtsstraßen des 1800-Seelen-Dorfs inmitten Schleswig-Holsteins rollen Tausende und Abertausende schwarzgekleidete Metalheads heran, auf den Bühnen tobt der Krach, in Text und Ausstattung dominiert Martialisches. Bands tragen Namen wie Testament, Exodus oder Cancer. Da lodern Feuer, Menschen brüllen, E-Gitarren kreischen. Die schwedischen Power-Metaler „Sabaton“ spielen vor einem echten Panzer. „Faster, harder, louder“ lautet das Motto eines, aber nicht des weltgrößten Heavy-Metal-Festivals der Welt. Doch der Krieg im Außen scheint das Innen zu befrieden: Wacken-Fans gelten als besonders freundlich und sind eigentlich alles andere als furchterregend. Und: Inklusion ist hier nicht aufgesetzt, sondern Programm und Überzeugung.
Ron Paustian ist Wacken-Fan der ersten Stunden. Und er trägt eine Behinderung in sich, die nicht sichtbar ist, aus der er aber auch kein Geheimnis macht. Der frühere Punker, der seit Mitte der 90er Jahre dabei ist, ist an einer schizophrenen Psychose erkrankt. Die erste Krise kam mit 18, erzählt er, mit 20 folgte ein langer stationärer Aufenthalt. Wacken musste trotzdem sein. „Das ging wunderbar, ich kannte ja viele. Man braucht nur Rückhalt“, sagt er. Die Reizsituation sei schwierig: „Ich bin wie ein Schwamm, sauge alles auf, Töne, Gerüche, optische Reize.“ Hinterher brauche er Monate der Erholung. Aber warum tut er sich das an? „Das ist wie Urlaub von der Erkrankung. Hier bin ich normal!“

Selbst aus dem Altenheim reisten Fans an – per Bus

Wir stehen am Ende des Dorfs auf der Wackener Hauptstraße. Vor einem Haus, in dem wirklich die sagenumwobene Wacken-Gastfreundschaft gelebt wird. Im Garten hinter dem Haus campen traditionell Fans aus aller Welt. Umsonst. Mit Frühstück, das die Dorfbewohnerin jeden Morgen selbst auf den Tisch bringt.
Am Haus vorbei „flanieren“ derweil nicht nur jede Menge Original-Metal-heads, wie sich die Fans von Heavy Metal“ nennen, sondern auch der ein oder andere Event-Tourist. Wacken ist Kult geworden. Erkennbar etwa daran, dass gar ein Bus mit Besuchern aus dem Heider Altenheim „Haus am Park“ zum gucken anrollte. Manch etabliertem Metaler geht das inzwischen zu weit ...
Auf der Hauptstraße rollt jetzt Jens heran. Jens sitzt im „Rolli“. Er und seine Truppe bringen Ron eine Rampe für einen Plattenladen in Hamburg vorbei, und Geld gesammelt haben sie auch noch. Großes Hallo. Alles „Buddies“, alles „Familie“, wie es immer wieder heißt. Im Mittelpunkt: Ron. Weil er selber Infos zur Ausstattung von Locations brauchte, etwa Angaben, wo sich die Notausgänge befinden, initiierte er zunächst das Onlinemagazin „New Metal Media“, indem er über barrierefreie Veranstaltungsorte informierte. 2015 gründete er den preisgekrönten Verein „Inklusion muss laut sein“. Zuletzt, im August, zeichnete ihn der Sozialverband Schleswig-Holstein mit seinem Integrationspreis aus. Auf der Homepage (http://www.i-m-l-s.com/) werden wertvolle und geprüfte Informationen zu Locations und Festivals, aber auch zu Taxis und Fahrdiensten im jeweiligen Gebiet zur Verfügung gestellt, und auch Konzerte aus allen Musikrichtungen empfohlen Der Verein berät aber auch Veranstalter, öffentliche Träger und Ämter.

Buddys begleiten Menschen mit Behinderung zu Konzerten

„Herzstück“ des Vereins ist das so genannte Buddy-System: Das Netzwerk soll mittlerweile europaweit weit mehr als 1000 Ehrenamtliche umfassen, die Menschen mit Behinderung zu Konzerten begleiten. Einschränkend gilt, dass nur in Ausnahmefällen Menschen aus betreuten Einrichtungen begleitet werden. „Dieses hat den Sinn, dass zugesicherte Leistungen aus dem Heimvertrag ihrer Einrichtung nicht unterwandert werden. Ehrenamt darf keine Arbeitsplätze vernichten“, heißt es auf der Homepage. Erst wenn keine „Profihilfe“ in Sicht ist, schicke er einen Buddie, so Ron Paustian. Er hat großen Anteil an der Inklusionsfreundlichkeit hier. Der Verein ist auch Partner der Wacken-Veranstalter.
Diese haben seit Gründung vor 30 Jahren einen, wenn auch nicht krisenfreien, aber zuletzt fulminanten Aufstieg hingelegt. Im Sommer 1990 startete das W.O.A. mit sechs Bands in der „Kuhle“. An zwei Tagen kamen 800 Besucher, der Eintritt kostete 12 Mark. Inzwischen ist Wacken über sich hinausgewachsen. Und teuer: 220 Euro kosteten die Karten 2019. Für die ganz harten Fans gibt’s inzwischen zusätzlich noch eine kleine Winter-Ausgabe („wacken winter nights“), wer mehr auf Sonne steht, reist zur „full metall holiday“ auf Mallorca, und eine eigene Metal-Kreuzfahrt gibt’s auch. Derweil verzeichnete das Original in diesem Jahr einen neuen Verkaufsrekord: Die Karten fürs nächste Jahr waren in 21 Stunden ausverkauft.

2019 kamen mehr als 75.000 Musikfans aus aller Welt

2019 kamen mehr als 75.000 Musikfans, und zwar aus aller Welt, das Sprachgemisch ist bunt. Besucher hatten die Wahl unter 218 Bands auf acht Bühnen. Darunter auch eine kleine, wütende Besonderheit: „Doch Chkae“ (zu deutsch Hundeleben), eine Metalband aus Kambodscha. Drei der vier Bandmitglieder sind nach Veranstalterangaben auf einer Müllkippe und dann als Waisenkinder in einem Heim aufgewachsen. Mit Hilfe eines Sozialarbeiters fanden sie Metal als Ventil für ihre Wut und gründeten ihre eigene Death-Metal-Band.
In Wacken spielten sie im so genannten Wasteland, wie einer der großen Konzert-Dorfbereiche heißt. Hier herrscht Endzeitstimmung. Ausgebrannte Autos, stapelweise Totenschädel, dazwischen „Wasteland Warriors“ mit verrückten Outfits, ein Mann trägt ein blutbespritztes Fleischerkostüm. Wer gen Süden schlendert, trifft auf Mittelalter-Fans. Das Dorf auf Zeit hat irre viel zu bieten. Es gibt eigene Supermärkte, 850 Mobiltoiletten, neun behindertengerechte WC-Container, Hunderte von Ständen. Im Rahmenprogramm kämpfen Ritter. Es gibt Fußball und Wrestling. Und es gibt auch eine besondere Überraschung: Auf einer der kleinen Bühnen nimmt der Comedian Torsten Sträter Platz. Vor – vermeintlich – harten Metalheads berichtet der Schirmherr der Deutschen DepressionsLiga e.V. unter anderem von seinen eigenen Erfahrungen mit Stimmungstiefs und Antidepressiva.
Wie ein Wackener wirkt er nicht. Der typische Metalhead ist männlich (der Frauenanteil nimmt allerdings kontinuierlich zu), ist von Tätowierungen übersät und trägt lange Haare fürs „Headbangen“, kleidet sich in Leder und vielleicht ‘ne Kutte, eine Weste mit Aufnähern seiner Lieblingsbands. Manch ein Altfan kommt langsam in die Jahre, zieht dem Zelt inzwischen ein Wohnmobil oder gar ein Bett im Moshtel, einem Container „mit Hotelcharakter“, vor. Hört vielleicht nicht mehr gut, so wie der Fan am Frühstückstisch nebenan, der von dem Konzert berichtet, das ihm 50 Prozent Hörverlust bescherte. Doch auch solche Probleme werden hier aufgefangen. Gebärdendolmetscherinnen sind im Aufwind. „Die mit den Händen tanzen“ nennt sich das Team um Laura M. Schwengber. Sie übersetzt den Text zur Musik, deren Vibrationen Hörbehinderte im Körper spüren, kunstvoll in Gebärden.

Der Metalhead liebt Musik, Fußball und Bier

Der Metalhead indes liebt nicht nur Musik, sondern auch Fußball – und Bier. Die Bierpipeline ins Gelände ist einen Kilometer lang. Gespielt wird auch. Im Gaming-Village. Hier, in einem Zelt mit vielen Computern und „Metal-Nerds“, ist Binge-Gaming angesagt. Um nicht zu sagen „ballern“. Mit Kriegsspielen. Das kriegt einen Beigeschmack, wenn direkt nebenan im Movie-Bereich eine Dokumentation – „Syrian Metal is war“ – über eine Subkultur im echten Krieg läuft. Auch die Bundeswehr macht an einem eigenen Stand Werbung für die Truppe.
Zurück ins Gelände, durch das sich auffällig viele Rollstuhlfahrer bewegen. Für sie gibt man sich besondere Mühe hier: Es gibt eine eigene Handycap-Infobroschüre, einen separaten behindertengerechten Campingplatz sowie erhöhte Podeste vor den großen Bühnen. 450 bis 500 Rollstuhlfahrer sollen in diesem Jahr dabei gewesen sein, meint Drees Ringert, Inklusionsbeauftragter seit 2016. Seit einem Verkehrsunfall sitzt er selbst im Rollstuhl. Warum wird Inklusion hier so groß geschrieben? Die Community der Metalfans sei „sehr loyal und solidarisch“, weder extremistisch noch rassistisch, erklärt er, das Thema sei eine Herzensangelegenheit, auch der beiden Chefs. Wacken habe hier eine Vorreiterposition eingenommen. Ziel müsse sein, dass alle Festivals inklusiv zugänglich sind. Für nächstes Jahr sei eine Broschüre in leichter Sprache geplant. Seit vorigem Jahr gibt es sogar einen aus Süddeutschland kommenden Pflegedienst, der vor allem bei Morgen- oder Abendroutinen im Einsatz gewesen sei.
Der neue Pflegedienst passt aber nicht jedem: Ron Paustian ist deshalb sogar „in den Streik getreten“, wie er sagt. Das heißt: In diesem Jahr ist er zwar auf der Hauptstraße unterwegs, um Gleichgesinnte zu treffen, doch betreibt sein Verein keinen Stand auf dem Festivalgelände, wie sonst üblich. Ein professioneller Pflegedienst sei für ihn keine Inklusion, erklärt er. „Ich fördere selbstbestimmte Teilhabe.“ Bei den über seinen Verein vermittelten Buddyteams werde darauf geachtet, dass die Chemie stimmt. Außerdem rechne der Pflegedienst das Budget bei den Kassen ab, das den Leuten dann später im Jahr fehlen könne, meint Ron Paustian.
Dann wird er wieder abgelenkt. Werner und Ötzi kommen an. Beide im Rollstuhl, sichtlich Hardcore-Metals. Auch sie gehören zur „Familie“, die Freude ist groß. Werner ist stolz: Der Zug war kaputt, da habe er so lange geredet, bis die Bahn ihrer Gruppe Taxis gerufen habe. Inklusion muss laut sein ...
Weit über 1000 Menschen mit sichtbarer Behinderung, mit Rollstühlen, seh- oder hörbehindert seien unterwegs. Zähle man geistige und psychische Behinderungen dazu, seien es weit mehr, schätzt Ron Paustian. Als Manko insbesondere für Menschen mit psychischen Problemen nennt er das Fehlen von Ruheräumen. Viele Depressive seien unter den Besuchern, meint er, auch unter Musikern. Und auch gesunde Menschen können in dieser Ausnahmesituation mit wenig Schlaf, viel Lärm und Alkohol in Krisen geraten, wenn sich Sorgen und Ängste plötzlich Bahn brechen. Auch Pyrotechnik kann etwas auslösen. Seit 2010 sind daher 20 Seelsorger der Nordkirche im Schichtdienst im Einsatz und beraten im Schnitt rund 200 Menschen. Als Haupt-Beratungsthemen werden in einer Auswertung Ängste und Überforderung, eigene Zukunftsorientierung, Sinn- und Wertfragen sowie durch das Festival ausgelöste Konflikte angegeben. Zugenommen habe der Beratungsbedarf in Sachen sexueller Identität und Intersexualität, weshalb es dazu 2019 eine Extraschulung gab.

Sanitäter kämpfen vor allem gegen Wespenstiche

Und wenn Seelsorge nicht reicht? Dann wird an die Sanitäter weitergeleitet. Hier standen in diesem Jahr chirurgische Probleme und Wespenstiche an erster Stelle. Probleme mit schweren Drogen gebe es keine, so ein Sanitäter auf Nachfrage. Alkohol sei keine Droge, sondern „Grunderkrankung“, normal, sagt er trocken. Schwierigere Fälle werden ins 20 Kilometer entfernte Klinikum Itzehoe weitergeleitet. In manchen Jahren gab es gar keine Fälle, im vergangenen Jahr seien drei Menschen ambulant von der Psychiatrie versorgt worden. Nur 2015/2016 habe es mal 17 und 18 ambulante und 5 bzw. 8 stationäre Psychiatrie-Fälle gegeben, in den Jahren seien vermehrt Dealer auf dem Festival unterwegs gewesen, so Klinikumsprecherin Karin Götz. In der Unfallchirurgie dagegen würden in der Regel deutlich über 100, oft sogar über 200 WOA-Besucher behandelt.
Auf der anderen Seite steht: Wacken tut gut. „Ich weiß, wie es ist, zu Hause zu sitzen und nicht rauszukommen. Hier kann ich die Krankheit für den Moment besiegen und wusste ich immer, wenn was ist, fährt mich jemand nach Hause“, sagt Ron Paustian. Den schönsten Moment habe er vor sechs Jahren erlebt. Der NDR drehte mit ihm vor den großen Bühnen. Plötzlich verließ ihn das Team und er stand ohne Begleitung in der Menge, eigentlich eine Horrorvorstellung. „Aber ich habe es allein geschafft, im Infield! Das war ein absolutes Hochgefühl! Es kann hier ja nichts passieren.“

— Anke Hinrichs, Originalveröffentlichung 2019