Porträt

Die Carrières

Mareike Carrière wurde als eine der ersten deutschen Fernsehpolizistin bekannt und starb im März 2014 an Krebs. Auch ihr Bruder Mathieu machte als Schauspieler Karriere - und zuletzt mit dem Dschungelcamp große Schlagzeilen. Der Großvater erlebte die Psychiatrie der Nazizeit mit, der Vater lernte die alten „Anstalten von innen“ kennen, bevor er sich als Facharzt niederließ und der Psychoanalyse verschrieb. „2011er“-Blick auf eine erstaunliche Familiengeschichte.
Dr. Bern Carriere




Dr. Bern Carrière, 89*, in seinem privaten Arbeitszimmer in Lübeck.
Foto: Archiv/Hinrichs
Die Welt ist voller Geschichten, sagt Dr. Bern Carrière. Akribisch sammelt er all’ die Geschichten, die ihm über das Jahr in Zeitungen begegnen und trägt sie an Weihnachten zu einem Hefter zusammen, den er an Familie und Freunde verschenkt. „Wollen Sie auch einen?“ Der hagere große Mann steht auf und bewegt sich mühsam zu seinem überbordenen Bücherregal. Er wirkt fit, leidet aber gerade an einem Hexenschuss. Nein, das Alter, das sei kein Spaß, stöhnt der Psychiater, der in Kürze 90 wird. „Fortsetzung von Gesammeltes und Vermerktes, Zehnter Teil“, steht auf der DIN A 4-Sammlung aus dem Vorjahr, die er überreicht. Und dann erzählt er die eigene Geschichte.
Im Zentrum steht eine Familie, in der sich die Geschichte der deutschen Psychiatrie widerspiegelt und die ebenso von Traditionen wie von erstaunlichen Brüchen geprägt ist. Bern Carrières Vater erlebte die Psychiatrie in der Nazizeit und in der frühen DDR, er selbst war Teil der alten Nachkriegspsychiatrie, der „Schlangengruben“, und erfuhr den Übergang von Elektro- und Insulinschocks zum Aufkommen erster Psychopharmaka. Danach folgten die Anfänge der Psychiatriereform. Die Kinder indes scherten aus – alle drei machten das Schauspiel zum Beruf. Zuletzt sorgte Sohn Mathieu, 60, dafür, dass der Name Carrière in die Schlagzeilen geriet. Er wurde Mitbewohner der Dschungel-„Kommune“. Und Dr. Bern Carrière hat sich entschieden, den Weg seines Sohnes in den Urwald gut zu finden.
Es ist ein kleines unauffälliges Haus in Lübeck, unweit der Uniklinik, in welchem die Geschichte der Carrières in Stichworten entblättert wird. „Facharzt für Nervenheilkunde, Termin nach Vereinbarung“ – das alte Schild hängt noch am Haus. In Bern Carrières Arbeitszimmer ist die Zeit irgendwann stehen geblieben. Es ist niedrig und voller Bücher, auch die alte, unauffällige Behandlungscouch steht noch dort, der Blick fällt auf ein traumhaftes Gartengrundstück, am Ende fließt die Wakenitz. Hierher zog es die Familie, als sich Carrière 1962 in der Lübecker Altstadt als Facharzt niederließ. Hier hat er auch nach seiner Pensionierung mit 70 Jahren noch Patienten behandelt. Einer kommt bis heute.
Die Psychiatriegeschichte der Carrières nimmt ihren Ausgang in Norwegen. Daher entstammt Bern Carrières mütterliche Linie, und dort arbeitet auch Vater Reinhard zunächst als Arzt in „Asylen“, bevor er 1929 nach Sachsen, in die psychiatrische Anstalt Arnsdorf wechselt. Später tritt er in die Partei ein, was die Nazis zur Voraussetzung für eine Chefarztstelle machen, die ihm in der Heilanstalt Sonnenstein in Aussicht gestellt wird. Dort wird Reinhard Carrière 1936 Oberarzt und Stellvertreter von Prof. Hermann Paul Nitsche. Nach einem Jahr jedoch wird der Oberarzt nach Leipzig zwangsversetzt, wo er fortan als einfacher Regierungsmedizinalrat weiter arbeitet. „Er hat sich durch kritische Bemerkungen unbeliebt gemacht“, erklärt Sohn Bern, und er habe sich geweigert, als Blockwart zu fungieren. Zum Glück, so entgeht der Arzt der Tötungsmaschinerie. Nitsche, der die Euthanasie befürwortete, setzte Zwangssterilisationen, fragwürdige „Zwangsheilbehandlungen“ und „Hungerverpflegung“ gegen „erbkranke“ Patienten durch. Zwischen 1940 und 1941 wurden in der „NS-Tötungsanstalt Pirna Sonnenstein“ im Rahmen der Euthanasie-Aktion T4 etwa 15.000 meist behinderte oder psychisch kranke Menschen getötet.
Bern Carrière erfuhr nicht viel Genaues in dieser Zeit. „Es wurde wenig gesprochen in unserer Familie“. Der Vater wird nach dem Krieg entnazifiziert und bleibt auch zu DDR-Zeiten im Osten, wo er Leiter der Anstalt Colditz wird. Sein Sohn hat das düsterste Kapitel der deutschen Geschichte 1999 in einem kleinen Büchlein für sich aufgearbeitet. „Von Eugenik und Rassenlehre zu Euthanasie und Rassenwahn, gesammelte Anmerkungen“, heißt es.
Er selbst habe im März 1945, als Medizinstudent der Wiener Marineakademie, „irrsinniges Glück“ gehabt, den Krieg zu überleben, sagt er. Als er – um Bekleidung zu holen – mit einer Gruppe Studenten nach Chemnitz geschickt wurde, sei er nur knapp der Feldgendarmerie entwischt, indem er als Hilfsarzt in einem Lazarett anheuerte. „Die hätten mich sonst noch an die Front geschickt.“
Und so gelangt der Arzt nach Kriegsende – 1948 und nach einem Umweg über Leipzig – nach Norddeutschland. An die Wahrendorffschen Anstalten nach Ilten bei Hannover. Hier, an der größten privaten psychiatrischen Anstalt Deutschlands, wird wieder ein neues Kapitel deutscher Psychiatriegeschichte aufgeschlagen. Wobei diese Anstalt in der Nazizeit eine rühmliche Rolle einnahm: Der damalige Ärztliche Leiter Prof. Hans Willige hatte viele chronisch Kranke vor dem Abtransport und dem Tod bewahrt, wofür er später mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet wurde. Sein Nachfolger Prof. Hans-Werner Janz kam aus Leipzig – und zog Carrière nach. Die Anstalt war in desolatem Zustand, sie wurde den Erfordernissen moderner Anstaltspsychiatrie angepasst. An das, was man damals als modern bezeichnete, erinnert man sich heute mit Grausen: Große Schlafsäle mit 20, 30 Betten, und nur drei Therapiemöglichkeiten, die Carrière aufzählt: Eine sogenannte SEE-Spritze, ein Opiatabkömmling zur Ruhigstellung, für die erregten Patienten jeden Morgen Elektroschocks. Schließlich Insulinschocks, bei denen die Patienten in komaähnliche Anfälle versetzt wurden, aus denen man sie durch Nahrungszuführung wieder herausholte. „Wir waren hilflos, es war die einzige Möglichkeit zu helfen. Und wir hatten damit auch Erfolge“, sagt Dr. Bern Carrière. Er leitete damals eine Station für schwer schizophren Erkrankte. Die Psychopharmakaeinführung Mitte der 50er Jahre erlebte er „als Gabe des Schicksals für die Patienten“. Mit Hilfe der Medikamente sei es erstmals gelungen, die Patienten, die man damit erreichte, längerfristig zu stabilisieren und Psychosen erträglich zu machen. Die Hochdosierungen früherer Zeiten habe er nie mitgemacht, sagt er. Die Spätfolgen damaliger Neuroleptikabehandlung wie die gefürchteten Spätdyskinesien – Bewegungsstörungen im Gesicht – sah er später als behandelnder Arzt in einem Lübecker Altenheim.
In Ilten wird auch sein privates Schicksal entschieden: Dr. Bern Carrière soll eine Röntgenassistentin in der Auszählung von weißen Blutkörperchen ausbilden – und verliebt sich in sie. Was ihn letztlich, über eine weitere Zwischenstation, als neurologischer Gutachter in Berlin, in die Heimatstadt seiner Frau Jutta nach Lübeck führt. Dort arbeitet er ein paar Jahre in einer psychiatrischen Abteilung der ehemaligen Anstalt Strecknitz, woraus später die Universitätspsychiatrie entstehen soll. Doch als ihm nach Umwandlung in eine Akademie Hochschulwürden verwehrt werden, lässt er sich 1962 lieber in eigener Praxis nieder. Und arbeitet anderweitig an vorderster Front. Er verschreibt sich der Psychotherapie, arbeitet schließlich auch als Psychoanalytiker, gründet die erste Balintgruppe in Lübeck und nimmt an vielen Tagungen teil. „Das hat Spaß gemacht“, sagt der alte Psychiater, und man merkt es ihm beim Erzählen an. Lange Jahre leitete er den Ärzteverein, auch im Ruhestand behandelte er noch regelmäßig Insassen des Lübecker Gefängnisses. „Ich hatte ein reiches Leben“, resümiert er.
Das kann wohl auch Sohn Mathieu von sich behaupten. Es war die Rolle des Tonio Krögers in einer Thomas Mann-Verfilmung, für die der erst 13-Jährige einst in Lübeck entdeckt wurde. Die Titelrolle in einer Schlöndorff-Verfilmung machte ihn schon mit 16 international bekannt. Früh stand er regelmäßig in Frankreich vor der Kamera, 1982 mit Romy Schneider in „Die Spaziergängerin von Sans-Souci“. Die französische Phase wurde Höhepunkt seiner Filmkarriere, nebenbei studierte er noch Philosophie. „Das Schwierigste an der Schauspielerei ist, nicht verrückt zu werden vor Langeweile”, lautet ein überliefertes Zitat des als provokant und exzentrisch geltenden Darstellers, der sich 2006 mit Dornenkrone und Lendenschurz bekleidet vor dem Bundesjustizministerium an ein Kreuz binden ließ, um für eine Reform des Kindschaftsrechtes zu werben, und der aus Neugierde immer noch jede Rolle annehme, die in seinen Terminkalender passt, wie er in einem Porträt anlässlich seines 60. Geburtstags wiedergegeben wurde.
Auch Schwester Mareike, die im „Großstadtrevier“ einst die erste deutsche Fernsehpolizistin spielte, startete schon mit 16 eine Schauspielausbildung und ist ein weit bekanntes Gesicht. Nach diversen Filmen v.a. fürs Fernsehen zog es sie zuletzt wieder auf die Theaterbühne. Dorthin strebte in den siebziger Jahren auch der zweite Carrière-Sohn Til, der bei Zadek in Bochum spielte. Mit 24 nahm er sich das Leben. Er war depressiv. Der wohl schlimmste Tag im Leben des Vaters, der sich bei dem Thema verschließt.
„Das Musische kommt wohl von meiner Mutter“, erklärt sich Dr. Bern Carrière das ausgeprägte Schauspieltalent seiner Kinder. Auch er selbst liebt Gedichte und klassische Musik und las schon als Kind Goethe mit verteilten Rollen.
Und nun das „Dschungelcamp”. Ein vermeintliches „Schmuddelformat”, bei dem man nie wusste, was echt und was inszeniert war, das sich zum sensationellen Quotenhit entwickelte und die Nation spaltete und polarisierte zuvor kaum eine andere Fernsehsendung. Mathieu Carrière mimte dort zunächst den Intellektuellen, ließ auch die eine oder andere psychiatrische Diagnose vom Stapel, verhaspelte sich dann im Gruppenmobbing. Um sich letztlich nicht weniger dramatisch vor laufenden Kameras bei Mitspieler Peer zu entschuldigen.
Auch Dr. Bern Carrière hat „Dschungelcamp” geguckt. „Er wollte es probieren“, sagt der Vater über die Motive seines Sohns, „er war neugierig“. „Es ist doch eine enorme Aufgabe, 14 Tage so weg vom normalen Leben zu sein. Das durchzustehen, war für ihn eine große Leistung!“ Die Sendung verurteilt der alte Psychiater nicht, sieht sie schlicht als theaterähnliches Spektakel. „Die Leute sehen sich gern Sachen an, die andere tun und die sie selbst nie tun würden, weil sie sich nicht trauen.“ Die Überwindung von Ekel, die Gruppenprozesse, die Extreme, nichts anderes passiere doch im modernen Theater auch.
Ähnlich sah es ausgerechnet eine Kolumnistin der taz. Dort analysierte Autorin Nadja Alexandra Mayer einen unfreiwilligen Rutsch in die Metaebene, mit dem das Spektakel zu einer „intellektuellen Herausforderung“ geworden sei, da „Mitcamperin” Sarah in der Figur der Enthüllerin das System zum Kippen gebracht habe. „Es ist ein Drama im brechtschen Sinne: absolut aufklärend“. Bertold Brecht hätte „Dschungelcamp” geguckt, wenn er noch leben würde, vermutete sie.
„Schlamm drüber“, wie es im Dschungel heißt.

*Dr. Bern Carriere ist am 24.2.2015 in Lübeck gestorben.

— Anke Hinrichs, Originalveröffentlichung Februar 2011